Die neue Dörflichkeit oder: Hinterm Horizont geht’s weiter

Eine der mod­er­nen Zivil­i­sa­tion­skrankheit­en ist ja das, was ich mal men­tale Prov­inzial­ität nen­nen möchte: Das per­sön­liche Unbe­ha­gen damit, dass man in der Prov­inz wohnt, aber auch der Äußerungs­drang, dass man ja ger­ade nicht in ein­er Prov­inz wohnt, nicht Prov­inz ist. Für mich sind das zwei Seit­en ein­er Medaille.
Biele­feld ist eine Stadt, auf die der Begriff der Prov­inz eigentlich schon immer ges­timmt hat. In direk­ter Nähe sind die Haup­tquartiere von Groß­fir­men wie Ber­tels­mann, Dr. Oetk­er, Miele, sowas ist aber offen­sichtlich kein Gegenin­diz. Vor ein paar Jahren ging der Biele­felder Wis­senschafts-Preis an Ronald Dworkin. Lauda­tor war damals Jür­gen Haber­mas. Der dama­lige Ober­bürg­er­meis­ter ließ sich die Gele­gen­heit nicht nehmen, um auch eine kleine Rede zu hal­ten. Er sprach darüber, weswe­gen Biele­feld so inter­es­sant sei, was so schön sei, warum Biele­feld eben keine Prov­inz sei. Die Rede dauerte 15 Minuten. Einen besseren Beweis, dass Biele­feld Prov­inz ist, hätte der Ober­bürg­er­meis­ter nicht liefern kön­nen, als das er ver­an­schaulichte, dass man min­destens eine Vier­tel­stunde braucht, um das Gegen­teil zu behaupten.
Nun gibt es aktuell eine gewisse Bele­bung in dieser Debat­te men­taler Prov­inzial­ität. Und ich neige immer stärk­er dazu, dass man auch Großstät­tern men­tale Prov­inzial­ität unter­stellen kann. Man muss also nicht in tat­säch­lich eher ländlichen Gebi­eten leben, um unter den Fol­gen von Prov­inzial­ität zu lei­den. In Biele­feld merkt man ja auch, dass viele gar nicht darunter lei­den und insofern gar nicht prov­inziell sind, zumin­d­est nicht men­tal.
Es hat einen Artikel von Matthias Kalle in der in Ham­burg erscheine­nen ZEIT gegeben, der sich damit beschäftigt, dass ange­blich plöt­zlich ein München-Hype aus­ge­brochen sei. Pro­vokant wird gefragt: „Wie kon­nte es dazu kom­men?“ Das ist wohl die Stelle, die prov­inzielle Münch­n­er gekränkt hat: Sollte München inzwis­chen gar nicht mehr würdig sein, „in“ zu sein? Der Text selb­st kränkelt widerum daran, dass der Autor glaubt, Münchens Charak­ter­is­tik nur anhand klein­er Par­ty- und Mode­mo­mente, gespickt mit der neuen deutschen Dör­flichkeit fest­machen. Daraus kann keine gute München-Beschrei­bung entste­hen.
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Daraus kann aber offen­sichtlich eine Kränkung von Münch­n­ern entste­hen, wie der Text Roxy Munich von Beate Wild hat Fieber ein­drucksvoll unter Beweis stellt. Man ist etwas pikiert über die Ein­stel­lung, Münchens Sub­kul­tur erst 2009 für her­aushebenswert zu eracht­en.  „Schön, dass der Rest Deutsch­lands endlich mal erfährt, dass München eine Sub­kul­tur hat.“ Ver­suchen Sie mal einen Satz zu for­mulieren, der noch prov­inzieller klingt. Ein klein­er, zusät­zlich­er Schön­heits­fleck dieses Satzes ist: Von Münchens Sub­kul­tur hat der Rest Deutsch­lands bis heute nicht wirk­lich erfahren, denn deutsche Feuil­letons sind nun mal nicht mehr massen­wirk­sam. Und eine Sub­kul­tur ist eben nur in Verbindung mit der Kul­tur, von der sie Sub­kul­tur sein möchte, les­bar.
Das heisst, es geht um München: Die einzige Metro­pole Bay­erns, wo sich das, was sich Sub­kul­tur nen­nt, dem übrigge­bliebe­nen Schickim­ic­ki ent­ge­gen stemmt. Ein Kampf gegen die Giu­lia Siegels dieser Welt. Ein München, das heute im Schat­ten Berlins als Deutsch­lands einziger Welt­stadt ste­ht. Wobei, wenn man in Berlin wohnt, man ja meist eh in irgen­deinem kleinen Berlin­er Vier­tel behei­matet ist, das für sich so gar nichts hat. Aber Berlin ist eben eine Stadt für Kün­stler und für die, die sich für Kün­stler hal­ten, ein Kul­turepizen­trum, dessen Auswüchse allerd­ings außer­halb Berlins schon kaum noch jeman­den inter­essieren. Den­noch ist der 30€-Flug München-Berlin stark nachge­fragt, für manchen ist dies der Ausweg aus der eige­nen men­tal­en Prov­inzial­ität. Vielle­icht fällt die auch in Berlin ein­fach nicht so auf, weil man auf Brüder und Schwest­ern im Geiste trifft.
Wenn sie das Feuil­leton der Frank­furter All­ge­meinen Zeitung auf­schla­gen, kön­nen sie genau das in den Berlin­er Artikeln rausle­sen: Dem Schreiber ist es wichtiger über irgen­det­was zu schreiben, weil es in Berlin stat­tfind­et, als auf den Punkt zu kom­men, der der Sache nach inter­es­sant sein soll. Schlim­mer ist das nur noch in den Aus­gaben von der Fre­itag. Das macht widerum die in München her­aus­gegebene Süd­deutsche Zeitung so inter­es­sant: Die Abwe­sen­heit eines alltäglichen Drangs von Lokalpa­tri­o­tismus, der ger­ade in let­zter Zeit zum Aus­graben wirk­lich guter The­men geführt hat, die in handw­erk­lich her­vor­ra­gen­den Tex­ten unterkom­men.
Heutzu­tage ist so ein biss­chen Prov­inzial­ität vielle­icht gar nicht so verkehrt.

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Straßenfeger

Biele­feld wird gerne als Inbe­griff von Prov­inz ver­wen­det. Selb­st in Orten, die noch prov­inzieller daherkom­men als Biele­feld. Das ist ein­er­seits der Inhalt der Biele­feld-Ver­schwörung, der andere ist der Nerv-Fak­tor, den dieser ‘Witz’ Biele­feldern bere­it­et, wenn darauf Anspie­lende meinen, sie erzählten einen guten, ger­adezu neuen Witz.
Bei der Luh­mann-Preisver­lei­hung an Dworkin durch Haber­mas ver­wen­dete der Ober­bürg­er­meis­ter Biele­felds in Anwe­sen­heit dieser Per­so­n­en der Zeit­geschichte eine geschla­gene Vier­tel­stunde auf den Nach­weis, Biele­feld sei eben keine Prov­inz. Es gibt wohl keinen besseren Beweis dafür, dass Biele­feld Prov­inz ist, als dass man für die Aus­bre­itung der Gegen­these länger als eine Vier­tel­stunde braucht.
Das Prov­inzielle wird aber kaum ein Biele­felder bestre­it­en. Dabei ist die Möglichkeit der Mobil­ität, denke ich, wesentlich bedeut­samer für die Darstel­lung des eige­nen qual­i­ta­tiv­en Lebensstils als der momen­tane Aufen­thalt­sort.
Aber es gibt Kleinigkeit­en, da spielt sich das Prov­inzielle eben aus. Jed­er Biele­felder, zum Beispiel, ken­nt die “Begleit­musik” der Stadt­bahn. Steigt man an der End­hal­testelle aus, knarzt eine Frauen­stimme behar­rlich “Mobil sagt tschüss, bis zum näch­sten Mal.”. Und ich glaube, genau­so behar­rlich, lässt sich der gemeine Stadt­bah­n­fahrer nicht ern­sthaft von ein­er Ton­band­stimme grüßen.
Zum anderen wird an der Hal­testelle “Haupt­bahn­hof” eine Klin­gel­ton­ver­sion Beethovens Für Elise zur Vertrei­bung der ort­san­säs­si­gen Pen­ner ver­wen­det. Der Erfolg dieser Aktion ist, dass man die Pen­ner sage und schreibe 5 Meter links und rechts in die Flucht geschla­gen hat. Wenn über­haupt. Wäre ich Ini­tia­tor ihrer, würde ich sagen, die Aktion ist sub­op­ti­mal gelaufen, das Ziel eigentlich ver­fehlt. Müsste das der Ver­ant­wortliche nicht auch denken? Nur dann nicht, wenn es gar kein Ziel gegeben hat oder das Ziel oder die Aktion vergessen wurde. Sowas ist in der Prov­inz aber eben okay. Ein Auf­muck­en wird es da so wenig geben wie Danksa­gun­gen irgendwelch­er Bürg­er: “Liebe Stadt Biele­feld, vie­len Dank für diesen Beethoven-Klin­gel­ton, der die Pen­ner nervt. Er nervt uns zwar noch mehr, da er uns das elendi­ge Rum­ste­hen an der düsteren Hal­testelle frühzeit­ig ankündigt. Aber diese akustis­che Beläs­ti­gung ist eigentlich nichts gegen die vor­mals visuelle.”
Anhand der­ar­tiger Aktio­nen man­i­festiert sich Prov­inzial­ität, gese­hen als Rück­ständigkeit, wesentlich inten­siv­er als an geo­graphis­ch­er Lage.
Dass man die Straßen Biele­felds auch anders leerge­fegt bekommt, durfte little_james beim EM-Spiel Por­tu­gal gegen Deutsch­land fest­stellen:

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