Wenn man eine neue Weltbeherrschungsgeschichte aus Motiven von Orwells 1984, Dicks Minority Report und Dürrenmatts Die Physiker schreiben wollte, dann käme wohl so etwas raus wie INDECT. INDECT ist das “Intelligente Informationssystem zur Unterstützung von Überwachung, Suche und Erfassung für die Sicherheit von Bürgern in städtischer Umgebung”. Und überwacht, gesucht und erfasst werden: Bürger.
Ob in Fußballstadien, in der Straßenbahn, am Bahnhof, in Einkaufszentren oder beim Demonstrationen: In Deutschland werden Menschen in der Öffentlichkeit dauernd überwacht. Das Projekt INDECT sieht vor, die Daten von allen verfügbaren Überwachungssystemen zu sammeln und in Echtzeit auszuwerten: Vorratsdatenspeicherung, Handyortung, Telefonüberwachung, fest installierte und mobile Videokameras, Gesichtserkennung, bestehende Datenbanken und Internetseiten. Damit ließe sich eine mobile Zielverfolgung, wie man sie aus Kriegsszenarien kennt, in Innenstädten durchführen. Die Projektverantwortlichen haben ihre Phantasien dazu auch schon verfilmt. Bislang scheiterten derartige Datensammlungsprojekte immer am Informationsüberfluss und an zueinander inkompatiblen Datenbanken. Dieses Problem hat man inzwischen in den Griff bekommen.
Weil die Polizei mit einem solchen Projekt schon personell überfordert wäre, sollen Computer die Arbeit übernehmen und Videoaufnahmen nach abnormalem Verhalten auswerten. Untersucht werden also entgegen aller Unschuldsvermutung alle erfassten Personen. Abnormales Verhalten besteht nach Vorgabe des Projekts u.a. beim Fluchen in der Öffentlichkeit, beim Rennen am Flughafen, bei zu langem Aufenthalten in Türbereichen, aber auch beim Zusammentreffen zu vieler Personen in Fußgängerzonen. Hooligans, Sexualstraftäter und Terroristen sind die üblichen Verdächtigen, nach denen Ausschau gehalten werden soll. Die Ergebnisse der Computeruntersuchungen werden schließlich zu einem automatischem Benachrichtigungssystem weitergeleitet. Der erste ernsthafte Einsatz von INDECT könnte bei der Fußball-WM 2012 in Polen stattfinden. Zwar sagen die Projektverantwortlichen, dass nicht geplant sei, INDECT dort einzusetzen, aber Genehmigungen zu Testzwecken in Stadien wurden auch für diesen Zeitraum eingeholt. Neben der normalen Überwachung plant man beim Projekt INDECT, Fangesänge live auf eine aufkeimende Bedrohung abzuhören. Für die Überwachung an Orten mit zu wenig installierten Kameras sind Drohnen vorgesehen, die mit Kameras ausgestattet sind. Derartige Fluggeräte werden in Deutschland schon bei Castor-Transporten eingesetzt.
In Deutschland ist neben Videoüberwachungsfirmen die Universität Wuppertal an INDECT beteiligt. Dort erforscht man für das Projekt, inwiefern sich aus Bildern und Videos Anzeichen von möglicherweise strafbaren Handlungen erkennen lassen. Die zuständigen Wissenschaftler in Wuppertal sehen sich allerdings nicht in irgendeiner Verantwortung für die Folgen ihrer Forschung. Man liefere nur die Grundlagenforschung und sei nicht für die Verwendung ihrer Ergebnisse zuständig. Von Gewissensbissen, wie sie Dürrenmatts Physiker plagten, keine Spur. Ebenso wie die EU-Kommission stellt man es so dar, als ob es sich bei INDECT bislang nur um ein auf bloße Forschung begrenztes Projekt handelt. Der AStA Wuppertal sowie weitere linke Studentengruppen fordern seit letztem November den sofortigen Ausstieg der Universität aus diesem Projekt. Das Verhalten der Wuppertaler Forscher sei so, meint Kai Nothdurft, als ob man eine Waffe erfindet, aber nicht mitverantwortlich sei, wenn jemand diese Waffe tatsächlich benutzt. Im Kern befindet sich die Wissenschaft hier in einem Zwiespalt. Wie kann man sich vehement gegen die Trennung von Wissenschaftler und Verteidigungsminister wehren, während man die Aufteilung in Forscher und Verantwortliche hinnimmt?
Das EU-Projekt ist auch auf politischer Ebene höchst umstritten: Zwar gibt es eine Ethik-Kommission für dieses Projekt, allerdings durften die Projektverantwortlichen diese Kommission nach eigenem Ermessen besetzen. Und so entscheidet die Ethik-Kommission inzwischen neben ihrer eigentlichen Aufgabe auch darüber, welche Informationen über das Projekt herausgegeben werden. Das führt zu so bizarren Situationen wie der folgenden: Das EU-Parlament hat an das Projekt eine Anfrage gestellt, nach welchen Kriterien die Ethikkommission besetzt worden sei. INDECT verweigerte schlicht die Auskunft.
Noch stehen der Umsetzung der Forschungen des Projekts technische und rechtliche Hürden im Weg. Allerdings meint der EU-Abgeordnete Alexander Alvaro (FDP), die “Menschensuchmaschine” INDECT sei wie “ein Tanker, der schwer aufzuhalten sei, wenn er erst einmal auf Kurs ist”. Wer profitiert also von diesem Projekt?
Projektbeteiligte erzählen ziemlich offen, dass wirtschaftliche Interessen durchaus eine Rolle spielen:
Why not commercializing it?
Gut, vielleicht schon deswegen nicht, weil dieses Projekt öffentliche Gelder verschlungen hat. Aber wer an derartigen Stellen auf rhetorische Fragen zurückgreift, der will über Datenschutz wohl nicht ernsthaft nachdenken.
Es ist derzeit nicht zu sagen, ob derartige Projekte zu mehr Sicherheit führen oder die Bürger durch Dauerüberwachung zutiefst verunsichern. Allerdings könnte INDECT ein Paradebeispiel sein, wie Innenpolitik durch sekundäre Interessen ausländischer Organisationen und Ausnutzung von Schwachstellen der EU beeinflusst wird, und nationale Restriktionen umgangen werden.
Dann wäre nicht mehr die Frage, ob der Schutz vor körperlicher Unversehrtheit gegen den Schutz der Privatsphäre ausgespielt wird, zentral, sondern ob Maßnahmen zur physischen Sicherheit der Bevölkerung die Staatsaufgabe zur Herstellung von Rechtssicherheit untergraben.
weiterführende Links:
Seite des FIfF zu Indect — http://panopticum-europe.eu/
https://secure.wikimedia.org/wikipedia/de/wiki/Indect
Die Projektseite – http://www.indect-project.eu/
Domingo Conte – http://nomenom.blogspot.com/2011/01/projekt-indect_15.html, http://nomenom.blogspot.com/2011/01/uberwachungsstaat-20.html
Westdeutsche Zeitung, 15.02.2011 – http://www.wz-newsline.de/home/panorama/video-ueberwachung-indect-grosser-bruder-aus-wuppertal‑1.578701
Piratenpartei Deutschland – www.stopp-indect.info
Alexander Alvaro im Deutschlandfunk – http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/thema/1367715/
2 Kommentare
Sehr gut, danke. Hier gibt es noch viele weitere Links: https://www.facebook.com/groups/147957891926884/
Wurde vor Monaten für dieses ZDF-Blogdings geschrieben, müssen das irgendwie vergessen haben ;-).