Irgendwie hat man beim STERN einen Narren an Amokläufen gefressen. Schon zu Zeiten von Winnenden meinte man dort, man sollte zeitnah zum Amoklaufgeschehen den Blick auf Twitter werfen, um den moralischen Zeigefinger zu erheben und über das böse Web zu schimpfen. Pöbeljournalismus nannte Stefan Niggemeier das damals. Selbstkritik hat man damals beim STERN wohl nicht betrieben, die Masche bleibt dieselbe.
Dieses Mal darf Felix Disseldorf Disselhoff dran. Anhand von 4 — in Worten: VIER — Tweets brandmarkt er in Das Web spottet, was “das Web” in Sachen Amokläufen von sich gibt:
User “Schlenzalot” scheint, mit sarkastischem Unterton, eine Erklärung für die Tat gefunden zu haben und zieht gleich Parallelen zum angeklagten TV-Moderator Jörg Kachelmann: “In Lörrach wurden auch Jörg Kachelmann und Sebastian Deisler geboren, dort weiß man, wie man mit “leichten Störungen” in die Presse kommt.”
Ob, wie von “Zyneasthesie” behauptet, die Täterin verheiratet und heterosexuell war und ob sie katholischen Glaubens ist, stand zum Zeitpunkt des ersten Tweets noch gar nicht fest. […]
So funktioniert das Web nur allzu oft. Aus einer einzelnen Meldung wird eine Lawine, die den Wahrheitsgehalt und das menschliche Drama oft unter sich begräbt.
[Schreibfehler des Twitternamens Zynaesthesie im Original.]
So funktioniert dann auch der STERN nur allzu oft. Vielleicht sollte man beim STERN mal schaurige Musik den Artikeln unterlegen, damit die morlaische Empörung ihrer weisen Autoren besser zur Geltung kommt. Wenn ein solch niedriges inhaltliches Niveau in einer Schülerzeitung vorkommen würde — niemand hätte richtig was dagegen, es wäre ja nur eine unprofessionelle Veröffentlichungsform. Aber dies ist immerhin der STERN, der sich abermals grottigsten Journalismus auf die Fahne schreibt. Aber gottseidank nur im Internet — da liest das ja keiner und da sind ja ehr nur Twitter-Idioten.
Und für Disseldorf Disselhoff darf dann die Mär vom qualitativ überragenden Journalisten natürlich auch nicht fehlen:
Das Problem ist wie so oft nicht die Nachricht, sondern wie mit ihr umgegangen wird. Während ausgebildete Journalisten darin geschult sind, sensibel mit Daten von Personen umzugehen und Fakten zu recherchieren, steht hingegen bei Twitter die Meinung schnell fest.
Keine Rede davon, wie hier mit der STERN-Nachricht umgegangen wird, die auf VIER Tweets basiert. VIER! Das nenne ich mal eine Fakten-Recherche. Und solch ein Aus-dem-Fenster-Gelehne gerade mal ein Jahr nach der nicht minder pietätlosen STERN-Tweets zu Winnenden.
So kann man nur Gerd Blank vom STERN recht geben, dass nicht zu erwarten war, dass Journalisten bedachter mit Vorfällen wie Amokläufen umgehen werden — gerade beim STERN selbst, bei denen diese verallgemeinerte, moralinsaure Twitterrüge bei Amokläufen mittlerweile wohl einfach Standard ist.
Aktualisierung
Till Achinger hat noch mal genauer nachgeschaut und festgestellt, dass Disselhoff teilweise wortwörtlich von Blank abgeschrieben hat.
Blank 2009:
So funktioniert das Web. Aus einer Meldung wird eine Lawine, die den Wahrheitsgehalt oft unter sich begräbt.
Disselhoff 2010:
So funktioniert das Web nur allzu oft. Aus einer einzelnen Meldung wird eine Lawine, die den Wahrheitsgehalt und das menschliche Drama oft unter sich begräbt.
Nicht mal mehr zu eigenständigen Formulierungen hat’s gereicht.
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Das Bildblog hat gestern auch was dazu geschrieben:
http://www.bildblog.de/22779/ausgebildet-und-sensibel/
Gibt’s woanders schärfer formuliert ;-).